Grundwissen Familienrollen


THEORIE
Viele Jahre lang waren Frieda und Ernst die ELTERN des KINDES Marcel, d.h. es bestanden zwischen den dreien nicht nur „Gefühlsbande“ (roter Pfeil) sondern ebenso eine ELTERN/KIND-Hierarchie (schwarzer Pfeil):

Bild 1 (Bild zum Vergrössern anklicken)

Die ELTERN Frieda und Ernst haben gegenüber ihrem KIND Marcel Pflichten (Erziehung, Betreuung bei Krankheit, Berufsbildung, usw.), jedoch auch Rechte (Einhalten der Regeln in der elterlichen Wohnung durch Marcel, Mithilfe von Marcel in Haushalt und Betrieb, usw.).

Spätestens wenn Marcel seine Erstausbildung hinter sich hat und auf eigenen Füssen steht, sind die ELTERN „nur“ noch Eltern des ERWACHSENEN Marcel, d.h. es bestehen weiterhin Gefühlsbande, jedoch keine ELTER/KIND-Hierarchie mehr. Eltern und Sohn sind nun alle ERWACHSENE.

Bild 2 (Bild zum Vergrössern anklicken)

Für die Eltern bedeutet das: Gefühlsmässig wird Marcel immer ihr Sohn sein, jedoch elterliche Rechte und Pflichten bestehen keine mehr. Ernst und Frieda müssen – auch wenn das, da sie so nahe beieinander wohnen, sehr schwer ist - lernen, Marcel sein eigenes Leben leben zu lassen.

Marcel seinerseits muss lernen, sein eigenes Leben zu leben. Er muss herausfinden, was ihm persönlich gefällt und missfällt. Manchmal wird es dasselbe sein, das Frieda und Ernst gefällt und missfällt, manchmal jedoch wird er etwas anders machen wollen als seine Eltern. Und da muss er den Mut haben, dies zu tun, auch wenn er die Missbilligung seiner Eltern spürt. Dies ist sehr schwer, besonders da er so nahe bei seinen Eltern lebt, doch es ist – Schritt für Schritt – machbar.

Zieht Regula zu Marcel auf den Hof, sollten die Rollen in den Familien
wie folgt verteilt sein:

Bild 3 (Bild zum Vergrössern anklicken)

Wenn sich alle wie ERWACHSENE betragen, einander respektieren, jeder den anderen seine Visionen leben lässt, geografische und emotionale Grenzen beachtet, seinen Gefühlen und Wünschen konstruktiv Ausdruck gibt, bestehen sehr gute Chancen für das friedliche Zusammenleben der Generationen.



PRAXIS
In der Praxis (der GESCHICHTE) findet diese „Klärung der Familienrollen“ zwischen Frieda, Ernst und Marcel nicht oder nur teilweise statt. Gesprochen wird über Gewichtszunahmen bei den Kälbern, defekte Pneus, kaputte Dachziegel … jedoch nicht über Gefühle oder Rollen in der Familie. Auf das Zusammenleben von Frieda, Ernst und Marcel auf dem Hof hat dies keine grossen Konsequenzen, denn sie sind aus der gleichen Familie … und es besteht nur eine Familie.

Dies ändert sich jedoch spätestens, wenn Marcels Frau oder Freundin zu ihm auf den Hof zieht und auf dem Hof mitarbeitet.

Dadurch, dass eine vierte Person zum Dreierteam stösst, werden Arbeiten neu verteilt: Regula hilft bei der Fütterung der Mutterkühe, d.h. Ernst muss/darf diese Arbeit nicht mehr erledigen. Dies kann bei Ernst negative Gefühle hervorrufen, er fühlt sich vielleicht nicht mehr gebraucht. Regula kümmert sich nun um die Wäsche von Marcel, nicht mehr Frieda. Dies kann Eifersucht bei Frieda hervorrufen.

Verschiedene Lebenshaltungen „prallen“ aufeinander: Regula ist sich beispeilsweise gewohnt, Probleme anzusprechen und anzupacken, in Marcels Familie werden Probleme „totgeschwiegen“. Dies führt zu Missverständnissen.

Marcel lebt mit Regula zusammen in einer Wohnung und nicht mehr mit seinen Eltern, d.h. es bestehen nun zwei Familien. Spätestens jetzt wird Marcel – gezwungenermassen - die „KIND-Rolle“ mehr und mehr ablegen und die Rolle als Ehemann (ERWACHSENER) übernehmen. Frieda und Ernst ihrerseits müssen – gezwungenermassen - spätestens jetzt anfangen, auf ihre ELTERN-Rolle zu verzichten.

Alle diese Änderungen rufen unter Umständen bei den Beteiligten einen Wust von negativen Gefühlen hervor: Angst, Neid, Unsicherheit, Ärger, usw. (Da Marcel und Regula in eine gemeinsame Zukunft aufbrechen, Frieda und Ernst jedoch einiges loslassen müssen (den Sohn, verschiedene Arbeiten, usw.) und „nur“ das Alter vor sich haben, sind vor allem sie von solch negativen Gefühlen betroffen).

Da keiner eine Ahnung hat, was eigentlich abläuft, wird „Schwiegertochterrassismus“ betrieben: die „Schuld“ daran, dass das Leben auf dem Bauernhof nicht mehr so idyllisch ist wie vorher, wird Regula in die Schuhe geschoben – mit oder ohne Worte. Bevor sie kam, gab es schliesslich keine Probleme. Wenn sie sich ändert, ist alles wieder so schön wie vorher.

Doch „das Problem“ ist nicht die Schwiegertochter, sondern das „Gnusch“ in Bezug auf die Familienrollen:

(Bild 4: Drei gegen eine (Bild anklicken)

  • Frieda und Ernst haben sich noch nicht wirklich von Marcel gelöst. Er ist nicht nur gefühlsmässig ihr Sohn, sondern es besteht weiterhin eine – mehr oder weniger starke – ELTERN/KIND-Hierarchie: Frieda und Ernst wissen immer noch besser, was gut für Marcel ist … und sagen und zeigen ihm dies auch.
  • Marcel hat sich noch nicht wirklich von seinen Eltern gelöst, d.h. es besteht nicht nur eine gefühlsmässige Bindung sondern immer noch eine – mehr oder weniger starke – ELTERN/KIND-Hierarchie: Marcel will seine Eltern nicht verletzen, indem er ihnen sagt, dass er selber weiss, was gut für ihn ist. Er lässt zu, dass sie weiterhin in seinem Leben „herumbestimmen“, obschon er nun Ehemann ist und selber eine Familie hat.
  • Ernst und Frieda freuen sich: Sie haben nicht einen Sohn (KIND) verloren, sondern eine Tochter (KIND) gewonnen! Mit dieser Aussage wird auch zwischen Schwiegereltern und Schwiegertochter eine SchwiegerELTERN/SchwiegerKIND-Hierarchie geschaffen: Frieda und Ernst zeigen und sagen Regula, wie sie Marcel und seine Eltern „glücklich machen kann“.
  • Anstatt eine gute Ehefrau zu werden, bemüht Regula sich nach Kräften, eine gute Schwiegertochter (SchwiegerKIND) zu werden … und begibt sich damit ihren Schwiegereltern gegenüber in eine SchwiegerELTERN/SchwiegerKIND-Hierarchie: Sie lässt zu, dass die Schwiegereltern in ihrem Leben „herumbestimmen“, obschon sie nun Ehefrau ist und selber eine Familie hat.

Es stehen nun verschiedene „Lösungsmöglichkeiten“ offen:

  • Frieda und Ernst verharren – mehr oder weniger - in der ELTERN/KIND-Hierarchie, Marcel bleibt teilweise KIND und wird teilweise Ehemann, Regula wird teilweise SchwiegerKIND und teilweise Ehefrau. Die Eltern/Schwiegereltern mischen sich – mehr oder weniger - ins Leben der jüngeren Generation ein, Regula und Marcel haben nicht den Mut, ihre Visionen den Eltern/Schwiegereltern gegenüber durchzusetzen. Ein friedliches und konstruktives Zusammenleben der Generationen ist damit – auf längere Dauer – sehr gefährdet. Das Zusammenleben der Generationen kostet alle beteiligten Parteien viel Substanz.
  • Frieda und Ernst verharren – mehr oder weniger – in der ELTERN/KIND-Hierarchie, Marcel und Regula entscheiden sich, ERWACHSEN zu werden und sich der ELTERN/KIND-Hierarchie zu entziehen. Marcel und Regula leben ihre Visionen – auch gegen den Willen von Ernst und Frieda. So erreichen sie das ideale Ziel (Bild 3), allerdings nicht unbedingt das friedliche und konstruktive Zusammenleben der Generationen.
  • Marcel entscheidet sich, teilweise KIND zu bleiben, Regula dagegen entscheidet sich, ERWACHSEN zu werden und sich der SchwiegerELTERN/SchwiegerKIND-Hierarchie zu entziehen. Dies kann zur Scheidung von Marcel und Regula führen.
  • Idealfall: siehe THEORIE